Der Karfreitag des hl. Eugen von Mazenod
Eugen von Mazenod ist 25 Jahre alt, als er am 27. März 1807, einem Karfreitag, die Kathedrale von Aix betritt.
Die zurückliegende Zeit war für ihn geprägt von Zweifeln und Sorgen. 1802 war er aus dem Exil in Italien nach Frankreich zurückgekehrt. Sein Vater und sein Onkel, mit denen er die Jahre zuvor verbracht hatte, waren auf Sizilien geblieben. So lebte er im Haushalt seiner Mutter, die in Aix geblieben war. In den nächsten Jahren fehlte ihm ein klares Ziel.
Der Zeitvertreib eines jungen Adligen des napoleonischen Frankreichs, Theater, Musik und Tanz, füllte ihn nicht aus. Seine Herkunft weckte in ihm ein Bedürfnis nach Ruhm und Ehre; er sehnte sich nach einer Stellung, die seinem angeborenen Rang entsprach „auf dass die de Mazenod wieder jemand sind“ wie Fabio Ciardi es in seiner Biographie über Eugen zusammenfasst.
Er zog eine militärische Laufbahn in Betracht, doch dazu kam es nicht. Er überlegte zu heiraten, konnte sich aber nicht entschließen. Eine Karriere als Diplomat kam für ihn nicht infrage, das wäre für ihn eine Kapitulation vor Napoleon gewesen. Einige Jahr zuvor in Venedig hatte er sich mit dem Gedanken getragen, Priester zu werden. Doch das trat ganz in den Hintergrund.
So war Eugen in den folgenden Jahren erfüllt von einer inneren Leere, von Unzufriedenheit und Einsamkeit inmitten der Betriebsamkeit, die ihn umgab.
Doch trieben ihn geistliche und theologische Fragen in dieser Zeit um. Er las die Heilige Schrift und befasste sich mit religiöser Literatur – mehr, als es für viele Laien seiner Zeit üblich war. Auch widmete er sich den Armen, machte besonders viele Krankenbesuche und lehrte den Katechismus.
Ende 1806 ernannte ihn der Bürgermeister von Aix zu einem der Direktoren des örtlichen Gefängnisses. Mit großem Eifer bemühte er sich, die Bedingungen der Inhaftierten zu verbessern: Brot von besserer Qualität, jeden Tag eine Suppe, Betttücher für die Kranken, Mäntel, jede Woche saubere Hemden.
Es war eine Zeit des Ringens, die er rückblickend im Priesterseminar so beschrieb: „Ich gebe abwechselnd der Gnade und meinen Instinkten nach … Mein Gott! Meine Unbeständigkeit mache fest, verwandle innerlich mein Herz.“
Mein Gott! Meine Unbeständigkeit mache fest, verwandle innerlich mein Herz.
Am Karfreitag in Aix wurde das Kreuz in der Kirche langsam von dem Tuch befreit, das es für zwei Wochen verborgen hielt. Eugen war wie vom Blitz getroffen. Später beschrieb er das an ihm Geschehene:
„Ich habe das Glück außerhalb von Gott gesucht und zu lange zu meinem Unglück. Wie oft hat sich in meinem bisherigen Leben mein zerrissenes, gequältes Herz zu Gott hingewandt, von dem es sich abgewandt hatte! Kann ich die bitteren Tränen vergessen, die ich beim Anblick des Kreuzes an einem Karfreitag vergoss? Oh!“
„Niemals war mein Herz zufriedener, nie hat es größeres Glück empfunden; inmitten dieses Tränenstroms erhob sich meine Seele trotz meines Schmerzes oder vielmehr infolge meines Schmerzes zu ihrem letzten Ziel, zu Gott ihrem einzigen Glück, dessen Verlust sie lebhaft empfand.“
Für Eugen ist es ein Tag der Unterscheidung in ein „vorher“ und „nachher“; seine „zweite Bekehrung“.
Fabio Ciardi, einer der bedeutendsten Forscher zu Eugen von Mazenod, schreibt über dieses Erlebnis:
„Eugen kommt zur Einsicht, dass alles Liebe ist. Seit Ewigkeit hat Gott von ihm ein Bild der Gnade entworfen, um ihn seinem Sohn ähnlich zu machen. Das geschieht in einer zunehmenden Dynamik, die über den Vorsehungsglauben das Bewusstsein für die eigene Berufung, Rechtfertigung und Würde stärkt.“
Als Eugen später über den Weg meditierte, der ihn zu diesem Ereignis geführt hatte, schrieb er an Gott gewandt:
Eugen kommt zur Einsicht, dass alles Liebe ist. ... Das geschieht in einer Dynamik, die ... das Bewusstsein für die eigene Berufung, Rechtfertigung und Würde stärkt.
„Du warst dieser zärtliche und liebevolle Vater, der nicht aufhört, seinen geliebten Sohn zu stützen und zu umarmen, der in seinem Wahn gegen die wohltätige Hand, die er verkennt, weil er den Verstand verloren hat, wütet.“
Seine Rettung schrieb Eugen allein Gott zu. Er greift ein Wort des Apostels Paulus auf, wenn er schreibt:
„Gott entriss mich mit der süßesten aller Gewalten“ … „mit einer Meisterleistung … Ohne diese Meisterleistung würde ich immer noch in der Kanalisation umherirren, oder vielleicht wäre ich umgekommen.“
Eugens Sprache klingt dabei dramatisch. Das liegt zum einen an der Zeit, seinem Temperament. Zugleich aber auch an der Fallhöhe, an die sich Eugen später erinnert. Das kommentiert Arthur King:
„Die Worte von Eugen von Mazenod handeln nicht von ‚der Sünde‘, ‚den Fehlern‘ und ‚der Unwürdigkeit des einzelnen Menschen‘. Eugen schreibt in einem positiveren und gnadenerfüllten Kontext, der sich mit den „Großtaten Gottes im Leben des Menschen“ beschäftigt. In seinem Kontext ist der Fokus nicht an dem, was Eugen von Mazenod für Gott tat oder nicht für ihn tat, sondern an dem, was Gott für ihn tat in diesem gnadenerfüllten Augenblick seines Lebens.“
Für sein Verhalten der Jahre zuvor fand Eugen nach seinem Karfreitagserlebnis scharfe Worte:
„Möge für immer die Erinnerung an meine Rebellion vergessen sein“, schrieb er während Exerzitien 184. Doch sofort korrigierte er sich: „Nein, möge ich sie mein Leben lang nicht vergessen, denn nichts kann mich mehr an meinen König fesseln als der Gedanke an meinen Verrat und an seine Großmut.“
Die Schlussfolgerung lag für Eugen auf der Hand: „Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Barmherzigkeit hinauszuschreien. Ja, alle Tage meines Lebens und in jedem Augenblick werde ich die Barmherzigkeit Gottes verkünden.“
Aus dieser inneren Bewegung heraus entstand der tiefe Wunsch, sich ganz in den Dienst Gottes zu stellen. Damit verloren frühere Vorstellungen und Werte ihre Bedeutung: „seine Träume von Ehre und Ansehen, die Karriere, die er einschlagen wollte – alles macht den Platz frei für ein neues, anderes Ideal“, so Ciardi.
Eugen wollte so leben, dass er die Menschen teilhaben lassen konnte an dieser befreienden und begeisternden Erfahrung.
Arthur King sieht in seiner Analyse des Karfreitagserlebnisses die Formulierung einer zweiten Bekehrung kritisch: „Es ist ein Fehler, von der Karfreitagserfahrung als von einer „Bekehrungserfahrung“ zu sprechen. Es wäre aber auch ein Fehler zu sagen, dass die ekstatische Erfahrung des Karfreitags ihn zu einem Heiligen machte.“
Ciardi schätzt das Erlebnis am Karfreitag folgendermaßen ein: „Sicher ginge es zu weit, wollte man jenes Karfreitagserlebnis mit all den Erleuchtungen, die nach und nach davon ausströmen, überhöhen. Es ist ein Lebensweg.“
Und Jean Leflon betont: „Eugens Bekehrung geschah nicht plötzlich, dramatisch, spektakulär; sie bahnte sich langsam an, in der Stille, mit Höhen und Tiefen, Fortschritten und Verzögerungen, die er selbst ‚Untreue‘ genannt hätte.“
Gewiss: Der kritische Blick des Historikers sieht die – wenngleich verschlungenen – Kontinuitäten im Leben Eugens. Eugen selbst wollte aber schon wenige Jahre nach seiner Erfahrung diese als Wendung und Rettung gesehen sehen wollen. Und aus dieser Selbstdeutung Eugens erwächst die Wirkmacht des Ereignisses.
Alfred Hubenig sieht in seiner Biographie zu Eugen entsprechend die Relevanz des Ereignisses nicht darin, dass Eugen dadurch eine „volle Bekehrung“ widerfahren wäre. Aber fortan „bewegte er sich in der richtigen Richtung. Deshalb konnte er Jahre später deutlich den Einfluss der Karfreitagserfahrung auf seinem Weg mit Gott in dieser Welt sehen und anerkennen.“
Das Jahr 1807 ist dabei historisch nicht gesichert. Die Erfahrung könnte laut Ciardi auch am Karfreitag des Jahres 1805 oder 1806 geschehen sein, nach Hubenig könnte sie auch ins Jahr 1808 datiert werden.
Sicher ist: Von diesem Erlebnis her erhellt sich Eugens weiteres Schicksal, sein Handeln und Denken. Die Liebe Gottes begegnete Eugen am Kreuz. „Inmitten des Leids“, nicht trotz des Leids“, wie Ciardi es formuliert. In der Teilhabe am Geheimnis Christi, dem Gekreuzigten, entwickelte sich Eugens Charisma.
Sein Blick änderte sich. Durch die Begegnung mit Christus entwickelte er nach und nach die Fähigkeit, alles im Licht des Heilsplans neu zu verstehen, den Gott für die Kirche und die Menschheit hat.
In den Armen sah er „die Armen Jesu Christi“; die Kirche erschien ihm wie „die erwählte Braut des Sohnes Gottes“, „die durch das Blut eines Gottes, der am Kreuz stirbt, geboren wird“; das missionarische Leben sah er als ein Mitarbeiten mit Christus, dem Retter.
Ein Artikel von Dr. Maximilian Röll