Die Kirchen leeren sich, die religiöse Bildung nimmt ab, das Ansehen des Klerus und der Bischöfe ist erschüttert, die Klöster sind geschlossen, die Armen und die Menschen am Rand werden vernachlässigt – es klingt wie eine Zeitanalyse der 20-er Jahren des 21. Jahrhunderts.
Tatsächlich ist es eine Zeitanalyse: Doch diese galt auch in den 10-er Jahren des 19. Jahrhunderts im Süden Frankreichs. Nach Revolution und napoleonischer Epoche waren die religiösen Verhältnisse in Frankreich erschüttert.
Zugleich war es eine Zeit der kirchlichen Aufbrüche. An vielen Orten machten sich engagierte Christen auf, neue Orden wurden gegründet, Frauen wie Männer gingen daran, an einer Zukunft des Christentums zu bauen.
Einer von ihnen war Eugen von Mazenod, der Gründer der Oblatenmissionare. Er erinnerte sich Jahre später an diese Zeit:
„Im Jahr 1815 legte ich die ersten Fundamente unserer kleinen Gemeinschaft. Das erste Ziel, dass ich mir vornahm, war die Evangelisierung der Armen, der Gefangenen und der Jugend. Dazu brauchte ich Mitstreiter, die sich ganz diesem Ziel hingäben“.
Es braucht Apostel
Was müssen diese Mitstreiter können, welche Eigenschaften benötigen sie?
„Es brauchte Männer, die zur Entsagung bereit waren, die im Geist der evangelischen Räte in den Fußspuren der Apostel gehen wollten“, war sich Eugen sicher.
Es ist damals wie heute keine Überraschung: Solches Bodenpersonal Gottes ist nicht im Übermaß vorhanden.
Entsprechend erinnerte sich Eugen: „Es ist nicht leicht, jemanden zu finden, der sich aufopfert und sich der Ehre Gottes und dem Heil der Seelen verschreibt, ohne in dieser Welt anderen Lohn zu erwarten, als viel Arbeit und alles, was der Herr seinen wirklichen Dienern angekündigt hat“.
So schrieb Eugen an François Tempier, den er mit diesen Worten werben wollte.
„Vergegenwärtigen Sie sich gut die Lage“
Der Brief an Tempier ist charakteristisch für Eugen, der ein großer, lebendiger Erzähler war:
„Mein lieber Freund, lesen Sie diesen Brief zu Füßen Ihres Kruzifixes mit dem Vorsatz, nur auf Gott zu hören, was seine Ehre und das Heil der Seelen von einem Priester wie Ihnen verlangen. Gebieten Sie Ihrer Begierlichkeit, Ihrer Liebe für Wohlbehagen und Bequemlichkeit, Schweigen. Vergegenwärtigen Sie sich gut die Lage der Landbewohner, den religiösen Zustand bei ihnen, die Apostasie, die sich Tag für Tag mehr ausbreitet und schreckliche Verwüstungen anrichtet. Sehen Sie, welch schwache Gegenmittel man bis jetzt dieser Sündenflut entgegengesetzt hat; fragen Sie Ihr Herz, was es unternehmen würde, um diesen Übelständen abzuhelfen, und dann antworten Sie auf meinen Brief.“
Auch einen Lebensstil hat Eugen klar vor Augen: „Das Glück erwartet uns in dieser heiligen Gemeinschaft, die nur ein Herz und eine Seele haben wird; ein Teil des Jahres wird der Bekehrung der Seelen dienen, der andere Teil der Zurückgezogenheit, dem Studium, unserer eigenen Heiligung“.
Mit solcher Werbung hatte Eugen erste Erfolge.
Ein immer noch aktuelles Profil
Am 25. Januar 1816, dem Fest der Bekehrung des hl. Paulus, wandten sich die ersten Mitglieder der Gemeinschaft mit einer Bitte an die Kapitelvikare von Aix, die Leiter des Bistums, die Priester für den Dienst in der Mission freizugeben. Darin schrieben sie:
- „Wir wissen aus Erfahrung, dass angesichts der Verstocktheit oder Gleichgültigkeit dieser Leute, die von uns geleistete Seelsorge unzureichend oder sogar unnütz ist;
- wir sind überzeugt, dass Missionen das einzige Mittel sind, um diese armen verirrten Menschen aus ihrer Verkommenheit herauszuführen;
- wir haben das Verlangen, dem Ruf zu folgen, sich diesem schwierigen Seelsorgedienst zu weihen;
- wir möchten diesen Dienst in einer solchen Weise leisten, dass er für unseren eigenen geistlichen Nutzen ebenso fruchtbar wird wie für die Menschen, die wir evangelisieren wollen“.
Der 25. Januar gilt daher als Gründungstag der Gemeinschaft. Einer Gemeinschaft, die in einem Umfeld wirkt, das ihrer Gründungszeit erstaunlich ähnlich ist. Und deren Anforderungsprofil nach wie vor aktuell ist.
Maximilian Röll