„Das „zweite Ich“ seines Ordensoberen und Bischofs, der „zweite Vater“ der Oblatenmissionare - stets war François Tempier der Mann hinter Eugen von Mazenod, im Schatten des charismatischen Stifters, sodass er sich manchmal wie ein „gewöhnlicher Sekretär“ fühlte. So blieb Tempier außerhalb der Mazenodfamilie ein Unbekannter. Dabei hätte er deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient.
François de Paule Henry Tempier wurde am 2. April 1788 in Saint-Cannat geboren, einer Gemeinde 16 Kilometer nördlich von Aix-en-Provence. Seine Eltern waren Bauern. Über die frühen Jahre von François schweigen die Quellen weitgehend. Bemerkenswertes tritt im Leben von François aber schon bei seiner Erstkommunion auf.
Damals war die Kirche Frankreichs in zwei Lager zerfallen: den Priestern, die den Eid auf die Verfassung der französischen Revolution geleistet und denjenigen, die sich geweigert hatten. Es wäre naheliegend gewesen, dass François die Erstkommunion in der Kathedrale von Aix erhielt – doch waren dort Priester tätig, die auf die Verfassung vereidigt waren. Stattdessen erhielt er mit zwei anderen Jungen seine Erstkommunion in einem Wohnhaus in Aix. Nach der Erstkommunion stand der Entschluss der Jungen fest: Sie wollten Priester werden. So trat François 1803 in das Knabenseminar von Aix ein und wurde 1814 zum Priester geweiht. Obwohl es prägende Jahre für den jungen Mann gewesen sein dürften: Auch hier weiß sein Biograph Yvon Beaudoin nichts zu berichten.
Schon kurz nach seiner Priesterweihe, Anfang Oktober 1815, erhielt er einen Brief.
Darin wurde Tempier für eine Einrichtung angeworben, die Missionare in die Landgebiete der Provence senden sollte. Der Absender machte keinen Hehl aus seinen hohen Ansprüchen:
„Es kommt darauf an, solide Fundamente zu legen. Wenn wir in unser Haus einziehen, muss darin von Anfang an die größte Regeltreue herrschen. Und genau darum brauche ich Sie; denn ich weiß, dass Sie fähig sind, sich für eine beispielhafte Lebensregel zu entschließen und darin zu beharren“
Der Absender war Eugen von Mazenod, den Tempier wohl schon aus seiner Zeit im Priesterseminar kannte. Der so Umworbene antwortete begeistert: Er würde sich glücklich schätzen, bei der Unterweisung der Landbewohner mitzuwirken; vor allem hege er den Wunsch, ein heiliger Priester zu sein, sich „dem Heil der Seelen zu widmen, ohne eine andere Belohnung hier auf Erden zu erwarten als viel Mühe und Arbeit.“
Am 27. Dezember traf Tempier im alten Karmelitinnenkloster von Aix ein, von dem Mazenod für seine Gründung einen Teil erworben hatte. Schnell wurde Tempier der engste Mitarbeiter des Stifters; schon am 11. April 1816 legten beide die gegenseitigen Gelübde des Gehorsams ab – die übrigen Mitglieder der jungen Gemeinschaft sollten erst später folgen.
Die Missionare stürzten sich sogleich in die Arbeit. Jedes Jahr unternahmen sie mehrere Reisen. Die täglichen Predigten, religiösen Veranstaltungen, die zahlreichen Beichten und die Reisen – das strapazierte die Gesundheit der Mitglieder. Der Stifter ging dabei mit „guten“ Beispiel voran; Fortuné de Mazenod, der Onkel Eugens befand, 1818, als wieder eine Missionsreise anstand: „Alle Missionare sind völlig erschöpft und körperlich außerstande, die Mission zu beginnen, noch weniger sie zu beenden."
Tempier scheint innerhalb der Gruppe ein besonneneres Verhältnis zu seinen Aufgaben gehabt zu haben. So kommentiere der Vater Eugens, man solle es so machen wie „der hochwürdige Abbé Tempier, der vernünftigerweise auf morgen verschiebt, was er am Vorabend nicht mehr schaffen kann".
Diese Vernunft suchte Tempier auch gegenüber Mazenod durchzusetzen. So schickte er ihn etwa im Sommer 1816 zur Erholung aufs Land. Als der Stifter im Winter 1818 Blut spuckte, verbot ihm Tempier zu predigen oder die Beichte zu hören. Möglich war das durch die besonders enge Beziehung zu Mazenod. Sie sollte sich in der Anfangsphase der Gemeinschaft bewähren – und das Leben beider prägen.
Tempier wurde der Vertrauensmann Eugens, engster Mitarbeiter und Assistent. Tempier übernahm dabei die Rolle des ruhigen, ausgleichenden Charakters gegenüber dem Stifter. So bemerkte Abbé Payan d'Augery, der beide kannte: „Sein ruhigeres Temperament milderte, wenn man so sagen darf, die Ausbrüche und das Ungestüm Bischof von Mazenods, bei dem die Heiligkeit den Charakter des Provenzalen hatte überleben lassen.“
Einige Jahre lang wirkte Tempier als Superior des Hauses in Laus. 1823 wurde er zu einer Aufgabe berufen, die ihn fast 40 Jahre beschäftigen sollte: Er wurde zum Generalvikar von Marseille, zunächst an der Seite Eugen von Mazenods. Tempier war von dieser Ernennung nicht begeistert und meldete Bedenken an. Der Stifter anerkannte: „Ich behaupte ja nicht, dass dies eine Einladung zur Hochzeit und zum Festmahl ist, doch Sie werden meine Sorgen teilen und mit mir gemeinsam an der Erfüllung der Pläne Gottes mit der Diözese und mit uns arbeiten.“ Tempier nahm also an.
Doch sehnte er sich bald nach dem Leben in Laus zurück: „Zu Hause und bei den Seinen fühlt man sich doch wohler als auf der Galeere... Wir seufzen nur nach dem Glück, uns um unsere Familie zu kümmern, nach dem Buchstaben und nicht bloß nach dem Geist unserer Regeln zu leben, wie wir es gezwungenermaßen tun an dem Platz, an den Gott uns gestellt hat und wo wir immerhin unser Bestes leisten.“ So schrieb er an einen Mitbruder.
Freilich, das Verhältnis Tempiers und Eugens war nicht spannungsfrei. Beaudoin schreibt: „Pater von Mazenod kannte sich gut genug, um zu verstehen, dass Pater Tempier immer nur als zweiter Mann in Erscheinung treten würde.“ Das war für Tempier nicht immer einfach, zumal er seine Aufgaben nicht immer klar abgegrenzt sah.
In Laos wirkte Tempier einige Jahre als Superior und Seelsorger. Foto: AntonyB (Wikimedia Commons)
Als er 1825/26 in Abwesenheit des Stifters die Ernennung zum Präsidenten der Kapitelsverwaltung annahm, die einem Dompropst vorbehalten war, wurde er von Eugen streng getadelt: „... Sie haben sich in dieser Sache zu sehr vom Gedanken an Ihr Ansehen leiten lassen und nicht von anderen Überlegungen, die mehr am Platz gewesen wären. Ich will Ihnen mit all der Offenheit, die ich Ihnen schulde, sagen: Im Namen Gottes, lieber Freund, seien Sie weniger empfindlich in diesen kleinlichen Fragen des Prestiges: dass es den Anschein habe, als seien Sie nur Zweiter, dass man Sie, wie Sie manchmal gesagt haben, nur für einen einfachen Sekretär ansehe....“.
Doch spielte sich die Aufgabenverteilung im Laufe der Jahre ein. Zum einen, weil Tempier häufiger in Marseille anwesend war als Eugen, der viel reiste. Zum anderen, weil er vor allem jene verwaltungsmäßigen und ökonomischen Aufgaben übernahm, die dem Stifter nicht entsprachen.
So urteilt Beaudoin: „Vielleicht wurde er nie offiziell zum Ökonom der Diözese ernannt, doch tatsächlich liefen alle materiellen Angelegenheiten über ihn.“ Zusätzlich wurde Tempier noch ab 1827 Superior des Priesterseminars, das von den Oblatenmissionaren geleitet wurde. Das Amt hatte er bis 1854 inne und hegte es wie seinen Augapfel, wie Beaudoin schreibt.
Joseph-Marie Timon-David hebt die Rolle Tempiers am Werk des Bischofs Eugen von Mazenod hervor: „Er war eine ehrwürdige Person, unter deren etwas kurz angebundenem Wesen sich eines der besten Herzen verbarg, dem man begegnen konnte. Da er seit der Wiederherstellung der Diözese Marseille Generalvikar war, hat er an all den Werken mitgewirkt, die den langen und fruchtbaren Episkopat Bischof von Mazenods unsterblich gemacht haben.“
Der ruhige, etwas verschlossene Charakter Tempiers und seine Rolle als Ökonom der Gemeinschaft wie als Generalvikar von Marseille haben ihm die Herzen nicht immer zufliegen lassen. Hinzu kam, wohl auch durch die Fülle der Arbeit, ein gewisser mürrischer Zug.
Beaudoin bemerkt: „Der Stifter war für die Ausbrüche seines Temperaments bei allen bekannt; man war nicht allzu sehr davon beeindruckt, weil man wusste, dass bald wieder Ruhe einkehrt. Bei Pater Tempier hat man den Eindruck, seine Zornesausbrüche seien kalkuliert und entsprängen einer Art pädagogischem Instinkt; er will in aller Deutlichkeit einen Missstand oder ein Unrecht aufzeigen. Doch sie hatten böse Folgen und wirkten zuweilen so lange nach, dass man ihm „manchmal ungerechtfertigte und hartnäckige Voreingenommenheit“ nachsagen konnte, auch „grundloses Nachtragen“.
Freilich, wenn er nicht mit Arbeit und Problemen eingedeckt war, galt er besonders inmitten seiner Kommunität als Mensch, mit dem man gut auskommen konnte, der scherzte und lachte. Und Timon-David betont: „Es war leicht, sich mit einem solchen Menschen zu verständigen... Er beharrte nicht stur auf seinen Ideen, dafür hatte er eine zu große geistige Weite. Er brachte die Einwände vor, die seine Weisheit ihm eingab, doch schloss er sich sofort den Ideen anderer an, wenn er überzeugt war, sie kämen von Gott."
Das Gebet nahm für Tempier eine entscheidende Rolle in seinem Leben ein – keine Erkenntnis für einen Priester. Doch war er um diesen Faktor seines Lebens in den Verwaltungsmühlen so besorgt, dass er schon bei seiner Berufung zum Generalvikar von Marseille deswegen Einwände erhob: „Man muss Zeit für das Gebet haben... Sie wollen mich doch nicht der Gefahr aussetzen, mich zu verlieren, dafür lieben Sie Ihre Söhne zu sehr“, so schrieb er an Eugen von Mazenod.
Die vielen Ämter und Aufgaben scheinen sein Gebetsleben freilich nicht ausgetrocknet zu haben. So urteilte Pater Fabre in seinem Nachruf: „Ja, er war fromm. Er war von jener soliden tiefen Frömmigkeit, die die Seele fesselt und sie in unmittelbare Berührung mit Gott bringt. Er hatte den Geschmack für das Heilige. Die Stunden des Gebetes schienen ihm nie zu lang.“
Eine weitere Eigenschaft scheint Tempier ausgezeichnet zu haben. Beaudoin schreibt über ihn: „Pater Tempier war auch ein Mann des Gehorsams. Sein ganzes Leben war ein Akt des Gehorsams.
Im Namen dieser Tugend wurde er als Superior nach Laus geschickt und blieb dort; er wurde zum Generalvikar von Marseille ernannt und blieb es; er übernahm, wie bekannt, die wichtigsten Aufgaben in der Kongregation und erfüllte sie. Fortuné de Mazenod fand übrigens 1818, er sei gelehriger und gehorsamer als sein Neffe, und nach 1861 bekennt der neue Generalobere Pater Fabre, er habe keinen gehorsameren Untergebenen als ihn.“
Der Tod Eugen von Mazenods erschütterte Tempier tief.
Die Assistenten bestimmten ihn zum Generalvikar des Ordens, sodass er das Generalkapitel einberufen musste, dass ab dem 5. Dezember in Paris tagte. Schon am ersten Tag machte er deutlich, nicht zum neuen Oberen der Kongregation gewählt werden zu wollen. Einen Wunsch, dem man ihn erfüllte – während einer seiner engsten Mitarbeiter, Joseph Fabre, zum Generaloberen gewählt wurde.
1865 bis 1867 war Tempier Superior des neuen Generalhauses in Paris und blieb auch danach die meiste Zeit dort. Seine letzten Lebensjahre waren von zunehmender Krankheit geprägt.
Tempier starb am 9. April 1870. In einem feierlichen Gottesdienst während des Generalkapitels von 1873 erinnerten sich die Oblaten an den „ersten Gefährten unseres Stifters, an seinen unermüdlichen Freund, an den, der als unser zweiter Vater gelten kann“.
Ein Artikel von Dr. Maximilian Röll