Während Gläubige und Schaulustige im Petersdom Abschied von Papst emeritus Benedikt XVI. nehmen, ist das Gezänk um sein theologisches und kirchenpolitisches Erbe bereits in vollem Gange. Da wurde schon in Erwartung seines nahen Todes fleißig an Memoiren, TV-Reportagen, Zeitungsartikeln und Aufsätzen gebastelt. Gar mancher hatte noch eine persönliche Rechnung mit dem Sterbenden offen, so dass sich binnen weniger Tage nach seinem Tode ein ganzer Schwall von Publikationen über das katholische Volk ergoss.
Das vernichtende Urteil des brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff (84), wonach Benedikt XVI. sich „als Feind der Freunde der Armen“ erwiesen hat, muss auch den letzten Oblaten aus dem Schlaf reißen. Sind wir Oblaten nicht „Freunde der Armen“ oder wollen es zumindest sein? Waren wir tatsächlich Feinde des deutschen Papstes Benedikt oder sind wir gar Feinde der Armen selbst? Leonardo Boff ist überzeugt, dass Josef Ratzinger die zentrale Bedeutung der Theologie der Befreiung nie verstanden hat. Seine Haltung zur "Option für die Armen" werde negativ in die Theologiegeschichte eingehen, glaubt der Befreiungstheologe Boff.
Zwar würdigt er den verstorbenen früheren Papst Benedikt XVI. als brillanten Denker, der aber wenig Verständnis für außereuropäische Sichtweisen auf das Christentum gehabt habe. "Ratzingers Stärke bestand darin, die traditionellen theologischen Sichtweisen, die insbesondere von Augustinus und Bonaventura grundgelegt wurden, in einer anderen Sprache zu formulieren. Außereuropäische Perspektiven blieben ihm aber fremd und verdächtig", schreibt Boff in einem Beitrag für die deutsche Zeitschrift "Publik-Forum". Die Konzentration auf das europäische Erbe habe den früheren Papst blind für ein plurales, weiter gefasstes Verständnis des Christentums gemacht.
Auch habe er die Kirche "als eine Art Bollwerk gegen die Irrtümer der Moderne" verstanden. Als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre sei Ratzinger "äußerst hart und unerbittlich" gewesen und habe zahlreiche Theologinnen und Theologen gemaßregelt. Boff nennt unter anderen Hans Küng, Jacques Dupuis, Gustavo Gutierrez, Jon Sobrino und Ivone Gebara, die allesamt „Freunde der Armen“ seien.
Wie einseitig diese Sichtweise Boffs ist, erschließt sich nur demjenigen, der die Mühe auf sich nimmt, die Schriften Benedikt XVI. sorgfältig zu studieren. Die Presselandschaft und die universitäre Theologie in Deutschland befeuern nämlich seit Jahrzehnten das einseitige Bild des Professors, Kardinals und Papstes Benedikt XVI. / Josef Ratzinger als erzkonservativen Theologen, wogegen Papst Franziskus als Lichtgestalt aus der Finsternis des Mittelalters seines Vorgängers hervorgegangen ist.
Inzwischen ist auch Papst Franziskus bei deutschen Theologen in Ungnade gefallen, weil er den Forderungen des „Synodalen Wegs“ in Deutschland nicht mit Begeisterung nachkommt. Boff, der in den 60iger Jahren in Deutschland bei Karl Rahner, Leo Scheffczyk und Josef Ratzinger / Papst Benedikt studierte, schwimmt schon seit geraumer Zeit im Fahrwasser deutscher Boulevardblätter und wird wiederum von diesen eifrig zitiert.
Der Abschied von Papst Benedikt XVI. gibt Anlass, sich seine Überzeugungen und die daraus resultierende Kirchenpolitik erneut vorzunehmen. Was meinte er etwa mit „Entweltlichung der Kirche“?
Diese Gedanken Benedikts finden eine Entsprechung bei Eugen von Mazenod. Sich „immer wieder neu den Sorgen der Welt zu öffnen“, wie Benedikt sagt, verlangt nach neuen Ideen und Strategien.
Eugen erkannte, dass die herkömmliche Pastoral und die Beschränkung auf die Pfarrseelsorge nicht ausreichend waren. Durch Volksmissionen in der Sprache der Armen sollten der Glaube und das kirchliche Leben insbesondere in den kleinen Städten und Dörfern der Provence erneuert werden. Die Vorstellung einer „armen Kirche, die sich von ihren materiellen Bindungen löst, damit ihr missionarisches Handeln wieder glaubhaft wird“, könnte Benedikt direkt von Eugen übernommen haben.
Eugens pastorales Konzept ist bestimmt von seiner Sicht der Armen, die er mit den Augen des Glaubens betrachtet. So ist es nur konsequent, dass er seine Hilfe vornehmlich den einfachen Menschen, der Arbeiterschicht und den Mittellosen in den städtischen Randbezirken und auf dem Lande zukommen ließ.
Sein Leitspruch „Evangelizare pauperibus“ verweist auf die Armen, die für ihn immer zuerst die pastoral Vernachlässigten sind, denen niemand die Frohe Botschaft bringt und ihnen ihre Würde als Mensch bewusst werden lässt.
Der Missionar ist für Eugen ein „wahrhaft apostolischer Mensch“, der seinen Verkündigungsdienst in und durch die apostolische Gemeinschaft versieht. Eugen folgte seiner Vision, wonach der Seelsorge eine gemeinschaftliche Gestalt gegeben werden sollte, nicht nur zum Zweck einer effektiveren Zusammenarbeit, sondern auch zur gegenseitigen Unterstützung in der je eigenen Berufung, Menschen zu Gott zu führen. Zur Stabilisierung des Gemeinschaftslebens wollten die Missionare nach einer Regel leben, in der sich der gemeinschaftliche Charakter ihrer Sendung und ihres Auftrags zeigt. Dass dabei die Armut, das „sich Lösen von materiellen Bindungen“, als Zeichen der Glaubwürdigkeit des missionarischen Handelns in der Nachfolge Jesu besondere Beachtung fand, versteht sich für Eugen von selbst (CC&RR 19-23).
Wer verstehen will, was Joseph Ratzinger mit „Entweltlichung der Kirche“ meinte, kommt an seiner Freiburger Rede vom 25. September 2011 nicht vorbei. Bei einer Begegnung mit engagierten Katholiken sprach der damalige Papst über die Sendung der Kirche, ihren Auftrag in unserer Zeit. Benedikt XVI. forderte: „Um ihrem eigentlichen Auftrag zu genügen, muss die Kirche immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von […] ihrer Verweltlichung zu lösen und wieder offen auf Gott hin zu werden.“ Adressatin dieser Kritik Benedikts in der Freiburger Rede war sicher besonders die katholische Kirche in Deutschland: „[Die Kirche] gibt nicht selten der Organisation und der Institutionalisierung größeres Gewicht als ihrer Berufung zur Offenheit auf Gott hin, zur Öffnung der Welt auf den Anderen hin“. In diesem Zusammenhang lobt Ratzinger sogar die Säkularisierungsbewegungen der vergangenen Jahrhunderte, weil sie zur „Läuterung und inneren Reform“ der Kirche „wesentlich beigetragen haben“.
Zahlreiche Parallelen zwischen Papst Benedikt XVI. und seinem derzeitigen Nachfolger Franziskus lassen sich beobachten. Beiden Kirchenführern ist etwa ein „Blick an die Ränder“ gemeinsam. Beide Päpste haben sich zudem für eine „Kirche der Armen“ ausgesprochen. Sie stehen damit in einer Reihe mit Papst Johannes XXIII., der bereits in seiner Friedensenzyklika „Pacem in terris“ vom 11. April 1963 von einer „Kirche der Armen“ gesprochen hat. Wie sein Nachfolger, Papst Franziskus, spricht Benedikt von einer armen Kirche, „die sich zur Welt geöffnet hat, um sich von ihren materiellen Bindungen zu lösen“ und deren „missionarisches Handeln wieder glaubhaft“ wird. Ratzinger entwirft das Bild einer inkarnatorischen Kirche, die „sich immer neu den Sorgen der Welt [öffnet], zu der sie ja selber gehört“, weil sie Teil der „Hinwendung des Erlösers“ an die Welt ist.
Autor: Athanasius von Wedon OMI
Header-Foto: OMI Mitteleuropäische Provinz
Foto von Papst Benedikt XVI.: Wikimedia Commons Elisfkc